Verfassungswidrigkeit der Rechtschreibreform

Details zum Urteil

  • Verfassungsgericht Hannover
  • Urteil
  • vom 02.03.1998
  • Aktenzeichen 6 A 4317/97 (NJW 1998, 1250)
  • Abgelegt unter Sonstiges
  • Kommentiert von

Leitsatz des Gerichts

1. Sprache und Schreibung genießen aufgrund ihrer elementaren Bedeutung für das Menschsein den Schutz der Art. 1 I, 2 I GG.

2. Bei einer die Schreibung erheblich verändernden Rechtschreibreform muß durch Wahrung größtmöglicher Pluralität in der Zusammensetzung der Vorbereitungsgremien und durch Anhörung der betroffenen Kreise die Gemeinverträglichkeit und die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs sichergestellt werden.

3. Wegen ihrer Wesentlichkeit und ihres grundrechtseingreifenden Charakters bedarf die Rechtschreibreform einer gesetzlichen Grundlage.

Die Entscheidungsgründe

Das Gericht beginnt mit umfangreichen Ausführungen zum Wesen der Sprache und Schreibung. Es wird hierzu u.a. ausgeführt: "Die Sprache ist vorstaatlich und für die Identität des Menschen von konstitutiver Bedeutung"..."Die Sprache ist von elementarer Bedeutung für das Menschsein".

Die Kammer legt dann dar, daß die Sprache durch Art. 1 I, 2 I GG geschützt wird, weil sie an der Würde des Menschen teilhat und zu seiner elementaren Entfaltung gehört. "Was dem Menschen angeboren ist, was ihn zum Menschen macht, gehört natürlicherweise zum engsten Schutzbereich seiner Persönlichkeit und seiner Menschenwürde."

Das Gericht führt daraufhin aus, daß es dem Staat zwar nicht verboten sei sich mit der Sprache zu befassen, daß er aber andererseits grundsätzlich gehalten ist der natürlichen Sprachentwicklung ihren Lauf zu lassen. Dies bedeutet, daß der Staat im Falle eines Eingreifens dafür Sorge zu tragen hat, daß die einander gegenüberstehenden Rechtsgüter mit besonderer Sorgfalt gegeneinander abgewogen werden, was eine umfassende Ermittlung der widerstreitenden Interessen erforderlich macht. Ferner müsse, so das Gericht, bei der vorzunehmenden Abwägung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Des weiteren wird ausgeführt, daß auch eine nur für Schulen geltende Normierung zwangsläufig die künftige Schreibung der gesamten Gesellschaft bestimmt.

Letztlich geht das Verwaltungsgericht davon aus, daß die Rechtschreibreform in einem mangelhaften Verfahren zustande gekommen ist und allein deshalb als rechtswidrig angesehen werden muß. Das Gericht beklagt die einseitige Zusammensetzung der Kommission, insbesondere, daß Dichter, Schriftsteller, Drucker, Verleger, Journalisten, Pädagogen und Träger der Erwachsenenbildung nicht vertreten waren. Gleichzeitig wird der Umstand, daß sich das Gremium durch Kooption veränderte, ohne daß ihr öffentlicher Auftraggeber hierauf Einfluß genommen hätte, als äußerst bedenklich eingestuft.

Da die Kommission somit den Gesichtspunkt der Pluralität vernachläßigt hatte, hätte die Anhörung der betroffenen Kreise um so gewissenhafter erfolgen müßen. Dies sei nach Auffassung der Kammer bereits deshalb nicht gegeben, weil noch wesentliche Änderungen am Regelwerk vorgenommen wurden, ohne daß eine weitere Anhörung stattgefunden hätte.

Die Kammer führt schließlich noch aus, daß die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung sowohl als Eingriff in die Grundrechte der Kläger als auch im Hinblick auf ihre Wesentlichkeit einer gesetzlichen Grundlage bedurft hätte. Dies bedeutet, daß der Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes auch für die Regelung einer Rechtschreibreform gilt. Auch aus diesem Grunde erachtet das Gericht die Klage als begründet.

Zusammengefaßt von RA Thomas Stadler

Kommentar von

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover ist die erste Endentscheidung zur Frage der Rechtmäßigkeit der Rechtschreibreform, nachdem es eine Reihe von gegensätzlichen Eilentscheidungen von Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten gegeben hat. Die Auszüge aus der Urteilsbegründung beschränken sich auf die unseres Erachtens tragenden Aspekte.